Durch Drachen geschützt
Das Mädchen mit den Mandelaugen und dem glatten,
lackschwarzen Haar wagte nicht zu atmen. Die unterirdische Höhle, die der
Erddrache ihr durch seine Magie geschaffen hatte, verbarg sie vor den seltsamen
Augen der fremden Soldaten. Aber die Wände aus Erde würden kaum Geräusche
abschirmen. Über ihr dröhnten Schritte. Von der Decke rieselte feiner Staub,
der ihren Mund austrocknete und im Hals kratzte. Weil Stimmen in die magische
Höhle drangen, deren Sprache sie nicht verstand, unterdrückte das Kind den
Husten, indem es beide Hände ganz fest auf den Mund presste. Ihr Herz raste wie
ein aufgescheuchtes Tier. Sie spürte Schweißperlen auf der Stirn. Noch hatten die
Fremden mit den runden Augen noch nicht herausgefunden, wie es den
Einheimischen immer wieder gelang, sich erfolgreich vor ihnen zu verstecken.
Sie kannten nur ihre Verbündeten unter den sekaiischen Drachen. Über das
Kaiserreich und seine Kultur wussten sie kaum etwas. Der Metalldrache hatte
ihren klobigen Waffen die Macht verliehen, dass die Schwerter nie stumpf wurden
und das Metall ihrer Feuerrohre aus in der Regenzeit nicht rostete. Die in ganz
Asien berühmten Langschwerter der Sekai'i dagegen wurden bereits stumpf, wenn
ihre Besitzer sie aus der Scheide zogen. Wenn die Waffen der Eindringlinge
trotz aller Magie barsten, kümmerte es die Fremden nicht. Denn auch der Drache
des Feuers kämpfte an ihrer Seite. Deshalb waren die Essen in ihren Feldschmieden
Tag und Nacht heiß genug für Reparaturen und zum Schmelzen neuer Kugeln.
Die verbliebenen Element-Drachen, drei an der Zahl, schützten
noch immer das Kaiserreich Sekai. Der hölzerne mit seiner Borkenhaut verschmolz
die grünen Kimonos der Waldläufer mit ihrer Umgebung. Der Hüter des Erdelements
versteckte die übrige kaiserliche Armee und die Bevölkerung. Der Wasser-Drache
verschaffte zwischen den Kampfhandlungen die dringend benötigte Erholung, so
dass die Einheimischen in den Schlachten zwar die minderwertigeren Waffen
führten, aber über weit mehr Ausdauer verfügten. Erst ein Mal zuvor hatten die
Drachen der Elemente sich an Kampfhandlungen teilgenommen. Deshalb würde dieser
Krieg als „Kurzer Drachenkrieg“ in die Chroniken eingehen. Der hielt das
Kaiserreich seit Jahren unerbittlich in seinen Krallen. Das Mädchen aus der
Höhle kannte gar nichts anderes als das Leben im Verborgenen und die Angst vor
den Fremden mit den runden Augen., denn der Konflikt hatte vor seiner Geburt
begonnen. Wenn der Boden bebte oder die Eulenflöte verkündete, dass Späher
einen fremden Trupp gesichtet hatten, schuf der Erddrache überall auf Sekai
verteilt Höhlen. Nachdem alle hineingeschlüpft waren, verschloss er den
Eingang, damit niemand von außen erahnen konnte, dass sich unter ihm in zwei
Metern Tiefe Menschen verbargen. Wenn alle zusammen saßen, erzählte einer der
Alten im Flüsterton Geschichten gegen die Angst. Dieses Gefühl hat für das Volk
der Sekai'i die Gestalt einer schneeweißen Kobra, die so lange Gift injiziert,
bis die Seele des Menschen vollkommen von Schatten verschlungen wird. Dann
schwindet sein Leben und er geht in den Kreislauf der Geburten ein, ohne, dass
er seine Lebensaufgabe erfüllt hat.
An diese Geschichten dachte das Mädchen in seiner Höhle, als
über ihm die Kugeln aus den Feuerrohren pfiffen. Sie schlang die Arme um die
Knie und kauerte sich so klein wie möglich zusammen.
Vor ihrem inneren Auge beschwor sie eine Landschaft herauf.
Saftig grüne Reisfelder kurz vor der Ernte, durchzogen von Wegen aus Hellem Sand.
Zwischen den blutroten und sonnengelben Herbstblättern der Bäume lugte der
klare blaue Himmel hervor. Die Schreie der Soldaten wurden mit jedem Atemzug
des Mädchens leiser, als wäre die Höhle mit Watte ausgekleidet. Mit der Zeit
trat der Kampflärm hinter fröhlichem Vogelgezwitscher zurück. Trotzdem
fröstelte das Mädchen. Es schlang die Arme noch enger um den dünnen Körper.
Sein Atem bildete Wolken. Aber Sekunden später spürte sie warme Finger auf
ihren Schulterblättern. Wie von einem ganzen Mückenschwarm auf einmal
gestochen, wirbelte das Kind um die eigene Achse. Die Bilder von dem Reisfeld
verpufften wie Luftblasen, wenn sie die Wasseroberfläche erreichen. Zurück
blieb nur die magische Höhle, in der das Mädchen völlig alleine war. Sein
kleines Herz warf sich gegen den Käfig aus Rippen. Als es einsah, dass gerade
diese Knochen es schützen sollten, rollte auch die Schneekobra im Magen sich
wieder zusammen. Denn das Kind beschwor die Bilder erneut herauf. Dieses Mal
überdeckten die Farben die Wände viel schneller. Die Erde schimmerte nicht mehr
zwischen ihnen hindurch. Zwischen den Schulterblättern des Mädchens hüpften
warme Punkte hin und her. Als würden die Fingerkuppen von Mutter Natur auf
meinen Rücken tippen! Kaum waren diese Worte in seinem Geist aufgetaucht,
sah sie die Göttin Dai Shizen, die als Mutter Natur auch über Tag und Nacht
herrschte. Die trug die helle Seite ihres Mantels nach außen. Während es das
Traumbild der Himmlischen betrachte, bemerkte das Mädchen, dass die gestickte
Sonne auf dem Mantel sich ausdehnte. Ursprünglich war das Gestirn ein Kreis
gewesen, von dem sternförmig Strahlen ausgingen. Zwei der gestickten Streifen
wurden länger und länger, reckten und streckten sich durch die Höhle, bis sie
sich dem Mädchen von vorn auf die Schulter legten. Dort stützten sie sich ab,
sprangen über die kleine Gestalt hinweg und wärmten wieder deren Rücken, so wie
sie es vorhin getan hatten. Nachdem das Kind das gesehen hatte, fühlte es sich
geborgen und ließ sich wieder im Schneidersitz auf dem Höhlenboden nieder. Ala
es erneut die Augen schloss, stellte es sich vor, der begabteste
Geschichtenerzähler des Dorfes säße neben ihm.
„Du brauchst mich nicht zum Trost, kleiner Schatz!“ hörte es
dessen Stimme in seinem Kopf. „In dir wohnen wundervolle Dinge! Erzähle sie dir
selbst und deine Angstschlange wird keine Kraft mehr bekommen!“
Das Mädchen schob die Schultern nach hinten und streckte
seine flache Brust heraus. Seine Lippen formten ein Wort, einen Satz und
schließlich das erste Bild, dem viele folgten. Vom ersten stumm geformten Wort
an, summte es in der Luft. Anfangs klang es wie eine einzelne Biene, dann nach
einem gigantischen Stock und das Geräusch schwoll weiter an. Das Kind
betrachtete währenddessen die Reisfelder, die es heraufbeschworen hatte.
Plötzlich bewegten sich die Halme.
„Das ist nicht der Wind!“ flüsterte es und kniff die Augen zu
ganz schmalen Schlitzen zusammen.
Das Wiegen der Halme im Reisfeld hielt an. Es betraf nicht
die gesamte Fläche, sondern nur vereinzelte Stellen. Die kleine Beobachterin
wandte ihren Blick nicht ab, bis sie mit dem Aufblitzen von weißen und
orangenen Punkten belohnt wurde. Als eine feingliedrige blasse Hand die Halme
zur Seite schob, zuckte das Mädchen mit den Mandelaugen kurz, aber ihre Augen
blieben offen und es sah auch nicht woanders hin. Es lehnte sich sogar vor,
damit es noch besser sehen konnte. Durch seine Ausdauer und Neugier entdeckte
es endlich die Frau zwischen den Halmen, deren Brüste durch das lackschwarze
Haar und weiße Schuppen verdeckt wurden und deren Oberkörper in einem ebenso
weißen Fischschwanz mündete, den orange Flecken verzierten. Erst dachte das
Kind, es müsse der Meerjungfrau einen Weg zurück in deren Heimatfluss erdenken.
Aber dann sah es ein Rinnsal, dass sich auf dem Boden seiner Höhle bildete.
Dieses floss aus dem Traumbild des Mädchens heraus. Sobald die stumme
Erzählerin ihre Aufmerksamkeit darauf lenkte, schwoll das Rinnsal zu einem
friedlichen Fluss an, der direkt an dem Mädchen vorbei plätscherte. Er war tief genug, dass die Meerjungfrau und ihre
Freundin bequem darin schwimmen konnten. Die beiden Mischwesen näherten sich
der Erzählerin und stützten ihre blassen Unterarme auf der schmalen Grasnarbe
ab, die dafür sorgte, dass das Mädchen nicht nass wurde. Aber die Wesen aus dem
Wasser waren nicht die einzigen Zuhörer. Auf dem Weg, der die beiden Reisfelder
teilte, erschienen gleich darauf zwei Punkte. Der Linke formte sich zu einer
Frau, deren Haar aussah, als stünde es in Flammen. Aus dem anderen erwuchs ein
Mann mit Haaren so gelb wie manche Bäume im Herbst. Diese Haarfarben gab es im
Kaiserreich Sekai nicht, auch nicht im Rest von Asien. Hier trugen alle das
glänzende Lackschwarz.. Sekunden nachdem das Kind das seltsame Paar gesehen
hatte, verformten sich deren Körper. Hände und Füße verklumpten sich zu Hufen
bis das Paar als Fuchsstute und Falbhengst den Weg entlang trabte. Die Pferde
weckten eine Erinnerung. Das Mädchen kannte eine ähnliche Zeichnung aus einer
Schriftrolle für den Götterkundeunterricht. Deren Illustration zeigte den
Schicksalsgott Ummei wie gewohnt in der Gestalt eines Kindes. Er beherrschte
das Bild. Neben seinen speckigen Kinderbeinen hatte der Zeichner vier Pferde
mit Reitern eingefügt, die für Spielzeug zu wirklichkeitsgetreu waren. Die
Erzählerin erinnerte sich daran, dass der Reiter auf dem roten Pferd böse
ausgesehen und der auf dem Falben gewirkt hatte, als würde er in der Mitte
auseinander brechen. So dünn war der Mann dargestellt. Die Pferde auf dem Weg
zwischen den Reisfeldern, die eben noch Menschen gewesen waren, hatten das
Mädchen inzwischen erreicht, das noch immer am erdachten Flussufer im weichen
Gras saß. Sie stupsten das Kind mit ihren samtigen Nasen an und bliesen ihren
heißen Atem in sein Gesicht, bis es sich vor Lachen den Bauch hielt. Als es
bemerkte, wie viel Lärm es verursachte, hielt es sich erschrocken den Mund zu.
Sofort rollten dicke Tränen. Weil das Mädchen von Weinkrämpfen geschüttelt
wurde, sah es gar nicht, dass die Stute wieder menschliche Gestalt angenommen
hatte. Es hob nur kurz den Kopf, als die rothaarige Frau es von vorne
umarmte. Das Kind ließ sich in die Arme
der Frau fallen, die mit ihren Feuerhaaren sein Gesicht abtrocknete.
„Du brauchst keine Angst zu haben!“ murmelte sie in das
lackschwarze Haar. „Alles, was du hier siehst, ist Drachenmagie. Kein Schall
dringt nach draußen. In dieser Höhle könntest du sogar schreien. Auch das
wütende Gebrüll eines Drachen würde keiner der Rundäugigen bemerken.“
Bevor das Kind etwas erwidern konnte, ergriff eine
Meerjungfrau das Wort. Ihre Stimme erinnerte an einen kleinen Bach im Wald, der
klar wie Glas ist und dessen Wellen über Steine hüpfen.
„Erzähl uns eine Geschichte, damit unsere Angstschlangen
nicht aufwachen!“ bat sie und drängelte, bis das Mädchen sich erweichen ließ.
„Ich frage mich, warum ich noch nie einen Glücksdrachen
gesehen habe.“ sagte das Kind mehr zu sich selbst. „Ich wüsste gern, ob ihre
Haut wirklich geschliffenen Rubinen ähnelt!“
Niemand unterbrach die kleine Erzählerin beim Ordnen ihrer
Gedanken. Alle lauschten wie sie die mächtigen Kreaturen beschrieb, die zu
Kriegsbeginn aus Sekai geflohen waren.
„Vater sagt, dass man sich in ihren Schuppen spiegelt. Aber
dazu muss man erst einen Glücksdrachen sehen und ihm nah kommen. Mutter sagt,
sie sind sanfter als Regen im Frühling auf völlig verschwitzter Haut. Sie sind
so gütig, dass sie keine Schatten auf den Seelen der Menschen ertragen. Deshalb
flohen sie in den Wolkenpalast, in dem die Götter zu Hause sind, als der Krieg
sich wie ein Gewitter ankündigte.“ Die Worte des Kindes legten sich um es
selbst und seine Zuhörer, als seien sie warme Decken. „Denn die Zwietracht in
der Luft pflanzte Angstschlangen in die Mägen der Glücksdrachen. Deren Gift
stumpfte das strahlende Glücksrot ab und nahm dem Gold an Krallen, Hörnern und Bärten
seinen Glanz. Dadurch erkrankten diese edlen Geschöpfe, denn statt der Luft,
die wir zum Leben brauchen, atmen sie das Licht in den Seelen. Daraus baut ihr
Körper.... das... daran kann ich mich nicht mehr erinnern!“
Die Frau legte dem Mädchen den Arm um die Schultern. „Aus dem
Licht der Menschen, die mit sich selbst zufrieden sind, filtert der Körper der
Drachen eine Essenz des Friedens.“ Sobald diese Worte verklungen waren,
vibrierte die Luft heftiger als je zuvor. Das Summen war mächtig, als flögen gigantische
Hornissen durch die Luft. „Dieser Substanz fehlt jedoch eine entscheidende
Zutat. Damit die Glücksdrachen Frieden ausatmen, müssen sie sich lange in
Zufriedenheit sonnen und ehrliche Gebete an die Göttin der Neugier einsaugen.
Wenn ein Krieg am Horiz0ont aufzieht, erhalten sie beides nicht, weil der Herr
der Schmerzen und die Schneekobras über Sekai herrschen.“
„Kommen sie jemals zurück?“ brüllte das Mädchen gegen das
Summen in der Höhle an.
Die Pferdefrau richtete ihren Blick zur Zimmerdecke. Erst
wartete das Kind auf ihre Antwort. Es musterte die Frau, deren Augen weiterhin
nach oben starrten. Es sprach sie an, bekam aber noch immer keine Reaktion.
Erst als die Höhlendecke durchsichtig wurde und das Kind aus Angst zu weinen
begann, rührte sich die Frau. Obwohl Tränen seine Augen verschleierten,
bemerkte es, dass die Frau nur unwillig ihren Blick von der Decke nahm. Deshalb
weinte es noch mehr. Das Mädchen beruhigte sich erst, als es ihre Arme um sich
spürte und sie ihm mit ihrer warmen Stimme versicherte, dass es keine Angst
haben müsse.
„Was hier gerade geschieht ist ein Wunder! Ein Wunder, das du
herbei geführt hast!“ sagte sie. „Du ganz allein, mein Mädchen! Die Rundäugigen
werden unsere Höhle nicht entdecken, denn die Magie des Erddrachen schützt uns
noch immer! Schau nur nach oben und sieh dir an, was deine ganz eigene Magie
bewirkt hat!“
Das Mädchen runzelte die Stirn. „Aber ich habe keine eigene
Magie! Noch nie gehabt! Die Sube-Priester haben mich daraufhin sogar geprüft!“
„Und doch hat Sube, die Göttin der Magie, dir Gehör
geschenkt! Die Bilder an der Wand waren ein Geschenk des Erddrachen, aber das
deine Geschichte Gestalt annahm, weil du Trost brauchtest, das hat Sube für
dich getan!“
Die Augen des Kindes wurden groß und es vergaß den Mund zu
schließen. Nie im Leben hatte es sich träumen lassen, dass eine Himmlische ihm
zuhören würde. Ihm, das weder Priester oder gar Kaiser zu seiner Verwandtschaft
zählte.
„Die Göttin hat dir die Meerjungfrauen und uns Gestaltwandler
geschickt, obwohl es auf Sekai kein Wesen gibt, das sowohl einen menschlichen
als auch den Körper eines Pferdes hat.“
„Und dieses Donnern? Sind das die Waffen der Fremden?“
stammelte es.
„Aber nein!“ Weil es sein Gesicht so fest es ging an die
vertraute Schulter drückte, sah es nicht, dass die Pferdefrau schmunzelte. „Das
Donnern kündigt dein ganz persönliches Wunder an! Schau nur hin!“
Zögernd hob das Kind seinen Blick. Da sah es sie: Schlangen
funkelnd wie Rubine mit goldenen Krallen und Ochsenköpfen.
Sein Mund trocknete innerhalb von Sekunden aus. „Können das
wirklich...“
„Ja, mein kleiner Schatz! Das sind die Glücksdrachen. Deine
ungetrübte Hoffnung auf Frieden und Schutz und deine Neugier sind ihnen Nahrung
genug. So lange du an sie glaubst, können sie bleiben und dann wird es bald
Frieden geben, weil ihre Magie uns zu einer Einigung führt!“
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